Corona-Krise ist zugleich Sinn- und Visionskrise

Von Theresia de Jong

 

Um gut leben zu können, brauchen Menschen einen Sinn in ihrem Leben. Das war die Kernaussage von Victor Frankl und er hatte sicher recht. Unsere Konsumgesellschaft hat den Sinn inmitten einer Materialschlacht längst verloren. Ein Auto, ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, reichen nicht aus, um zufrieden zu sein. Es muss bei allem das Edelste, Exklusivste oder Teuerste sein. Doch wie sagte Wilhelm Busch schon so richtig: „Ein Wunsch, der sich erfüllt, bekommt augenblicklich Junge.“ Das Sinnloch wurde also eifrig mit Dingen gestopft, die im Grunde recht überflüssig waren und dementsprechend auch nicht wirklich glücklich machten. Glück kommt von innen, nicht von außen, das ist hinlänglich bekannt.

 

Dies brüchige Glückskonstrukt, aus dem Materiellen gespeist, wurde durch ein winziges Virus erschüttert. Von heute auf Morgen standen Existenzen und sogar das eigene Leben auf dem Spiel. Also wurde zuerst reflexartig gehamstert. Hauptsache genug Toilettenpapier, Nudeln und Mehl! Grundnahrungsmittel ersetzten plötzlich die Trüffelburger. In den Krisen früherer Zeiten stand den Menschen ein Tröster zur Seite: Der Glaube an einen Gott war die Hoffnung, im letzten, tiefsten Grund getragen zu sein – nicht allein zu stehen. Und: Alles, was geschehen würde, konnte vertrauensvoll in die Hände des Allmächtigen gelegt werden. Heute sind die Kirchen leer. Gerade auch in der Krise, wo sie sich ehedem fast von selbst füllten. Es darf dort auch nicht mehr gesungen werden, ein archaisches Tröstungsritual seit Menschenbeginn - zu gefährlich. 

 

Aber die Kirchen waren auch schon vor der Krise leer. Eine verkopfte Spiritualität erreicht Menschen kaum im Herzen. Menschen sehnen sich nach einer direkt spürbaren, eigenen Verbindung zu dem, was größer ist, als sie selbst. Auf den Namen dafür kommt es dabei nicht an. Dort kann auch Sinn und Vision gefunden werden. Im Individuellen haben sich bereits Viele auf den Weg gemacht. Was fehlt – gerade in einer Krise – sind kollektive Visionen, die tragen – jenseits von Kommerz und Biologie. Die Gebote von Abstand, Hände waschen und Maske tragen, stiften keine Geborgenheit – im Gegenteil, sie vergrößern die Vereinzelung, verbergen die Gefühlslage des Gegenübers, die sich in Mimik so reich auszudrücken vermag. 

 

Dort, wo Visionen fehlen, wird das Vacuum gerne von radikalen Kräften gefüllt, die wissen, wie Manipulation funktioniert. Wie bereits Jacques Ellul, Mitglied der Résistance in Frankreich, in seinem Buch „Propaganda“ 1965 beschrieb, bemächtigen sich Manipulatoren der Sprache ihrer Zielgruppe, sprechen sie persönlich an und sind doch daran interessiert, ein „wir-Gefühl“ zu kreieren. Dann kann auch eine „verbindende“, gänzlich konstruierte „Realität“ erschaffen werden. Das hatte im Land der Dichter und Denker schon einmal funktioniert. Auch die Nationalsozialisten hatten nichts Geringeres als eine „Gottgegebene Ordnung“ versprochen, die sie nach ihren eigenen Vorstellungen definierten. Das war reine Verbalakrobatik, wirkte aber leider auf ausgedörrte Seelen wie Balsam. Massenaufmärsche, die sich die Gruppendynamik psychologisch geschickt zunutze machten, taten ein Übriges.

 

Wir sollten verhindern, dass es wieder so weit kommen kann. Ansätze zeigen sich nicht erst seit Berlin. Menschen werden nach Rattenfängermethode eingesammelt (Q-Anon Verschwörung) und instrumentalisiert. Ein kollektives Trauma (Kindsgewalt) wird genutzt, um eine Narrative zu verkaufen, die ganz anderen Zwecken dienlich ist. Dagegen helfen Verfassungsschutz und auch Polizei nur wenig. Es geht um die Köpfe und den Glauben der Menschen! Da sind auch Tatsachen nur bedingt hilfreich.

 

Was fehlt, ist eine Vision, in der Menschen sich abgeholt fühlen. Eine gemeinschaftliche Vision, die tragfähig ist und vereinen kann, anstatt zu spalten, ist für jeden Staat eine notwendige Grundlage. Dazu gehört auch, sich Kritikern nicht zu entziehen, indem sie reflexartig diffamiert und falsch etiquettiert werden. So etwas treibt sie in die offenen Arme radikaler Kräfte. Unsere Politiker müssen genau an dieser Stelle nachbessern, aber übergeordnet brauchen wir Visionen! Nicht mehr, aber vor allem auch nicht weniger!

 

Theresia de Jong ist Buchautorin zahlreicher Sachbücher, Resilienztrainerin und Verlegerin (Einklang Verlag). Sie hat Kommunikationswissenschaft und Werbepsychologie in München und Los Angeles studiert.

 

Zuerst erschienen in der NWZ am 17.09.2020