Wie uns die Liebe durch das Leben trägt

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Frühe Bindungserfahrungen 

 

Eine kleine Geschichte zeigt, dass die Nähe zwischen Mutter und Kind schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt gestaltet wird. Die Mutter-Kind-Bindung umfasst durchaus auch die Kommunikation mit unserem eigenen innersten Sein. Dabei glaube ich, dass die Beziehung, die wir zu unserem Kind knüpfen, wenn wir es auf dem Arm tragen, immer auch etwas mit der Beziehung zu unserem eigenen inneren Kind zu tun hat, das heißt: Verletzungen, die unsere Seele in frühester Zeit erlitten hat und noch nicht geheilt wurden, können sich dann auch auf die Beziehung zu unserem Kind auswirken und dadurch an die nächste Generation weitergegeben werden.

 

Nun aber zunächst zu dieser Geschichte, die ich angekündigt habe: Sie gefällt mir auch deshalb so gut, weil sie uns vieles über die Kontinuität des Daseins sagen kann, im ewigen Kreis von Tod und Leben und auch über die innige Verknüpfung zwischen Mutter und Kind. Es ist eine Geschichte von einem ostafrikanischen Stamm, die zeigt, wie Liebesfähigkeit auch über Rituale angelegt werden kann.

 

Wenn sich bei diesem Stamm eine Frau, ein Paar, ein Kind wünscht, zieht sich die Frau in die Einsamkeit zurück. Sie setzt sich unter einen Baum und wartet, bis sie das Lied ihres (zukünftigen) Kindes empfängt. Hat sie das Lied vernommen, geht sie singend in ihr Dorf zurück. Sie bringt das Lied allen Dorfmitgliedern bei. Wenn sie mit ihrem Mann in Liebe verbunden ist, singen sie beide das Lied, um die Seele des Kindes zu sich einzuladen. Ist sie dann schwanger, singt sie das Lied für ihr Kind im Bauch. Bei der Geburt singen die Frauen des Dorfes das Lied. Es ist das erste, was das Kind hört, wenn es geboren wird. Dieses Lied wird es sein gesamtes Leben begleiten. Es wird bei allen wichtigen Übergängen im Leben gesungen, bei der Hochzeit und auch auf dem Sterbebett.

 

Wenn ich diese Geschichte bei meinen Vorträgen erzähle, bekommen jedes Mal zahlreiche Zuhörer(innen) Tränen in die Augen. Offenbar wird dadurch ganz direkt eine tiefe Schicht in uns angesprochen. Es ist die Sehnsucht, verbunden zu sein mit einem größeren Feld, das uns trägt und behütet, ein Leben lang. Dieses Urvertrauen bildet sich in unserer frühesten Lebenszeit und ist die Grundlage für eine ungestörte Liebesfähigkeit.

 

Unser seelisches Wohlbefinden wird entscheidend mit über die Sinneszellen der Haut bestimmt. Das lässt sich sehr leicht beobachten: Wenn wir einen Säugling streicheln, entspannt sich sein gesamter Körper, und vielleicht streckt er sich wohlig wie ein kleines Kätzchen. Weinende Babys sind am besten zu beruhigen, wenn sie aufgenommen werden und einen direkten, liebevollen Körperkontakt spüren. Das Wort „spüren“ bezieht sich - ebenso wie „fühlen“ - auf beide Ebenen; körperlich, aber auch psychisch spüren und fühlen wir etwas. Was wir mit unseren Sinnen spüren, beeinflusst wiederum, was und wie wir uns fühlen. Sonja Stacherl schreibt in ihrem Buch Nähe und Geborgenheit: „Die Berührung bestätigt uns das Vorhandensein eines anderen außerhalb von uns und versichert uns gleichzeitig unsere subjektive Existenz. Durch die Berührung fühlt man also gleichzeitig das andere und das eigene Selbst. Keine Worte und keine Gesten können den Gefühlen von Liebe, Sexualität, Zuneigung, Trost und praktischer Unterstützung so eindeutig Ausdruck verleihen wie die Berührung.“

 

Ein Kind, das geboren wird (wobei natürlich die Umstände der Geburt großen Einfluss haben), erfährt einen totalen Seinswechsel – beim Kaiserschnitt sogar in wenigen Minuten. Von der behüteten Geborgenheit im Mutterleib, der gerade in den letzten Monaten, ein Raum mit eng gesteckten Grenzen war, wird das Kind in die Grenzenlosigkeit entlassen. Die vorher warme Umgebung ist um ein vielfaches kälter. Die Geräusche der Mutter fehlen, ja die Mutter fehlt unter Umständen ganz. Sie war für das Neugeborene der einzige Referenzrahmen, das Universum, alles, was es kannte. Ihr Körper war die Welt. Und das fällt dann plötzlich für das Neugeborene weg. Ihr Universum, mit dem sie eins waren, ist dann plötzlich nicht mehr da. Die Sicherheit des Seins ist bedroht. Neugeborene wissen ganz genau, was sie direkt nach der Geburt – aber auch noch lange danach – am dringendsten brauchen: Ihre Mutter, ihren Geruch, ihre Stimme, ihren Körper, ihre Berührungen, am besten Haut an Haut und so dicht beisammen wie möglich. Die Mutter wieder zu spüren, in ihren Armen geborgen zu liegen ermöglicht einen Seinswechsel in Frieden und in Sicherheit, ein Frieden und eine Sicherheit, die sich tief in dem kleinen Menschlein verankern werden. 

 

Ein Fehlen dieser Sicherheit wird sich aber auch auswirken und deshalb ist es so wichtig, diese fehlende Erfahrung so bald wie möglich nachzuholen, um die Erfahrung der Liebe zu einer prägenden Erfahrung zu machen. In den achtziger Jahren kursierten übrigens Bindungstheorien, die besagten, dass – analog zu Tierstudien besonders an Graugänsen - auch beim Menschen die erste Stunde nach der Geburt prägend ist. Waren Mutter und Kind in dieser Zeit getrennt, wurde ein tiefer und kaum zu kittender Bindungsriss angenommen. Inzwischen gilt diese Theorie als überholt. Es gibt sicherlich so etwas wie eine sensible Phase auch beim Menschen, aber das Zeitfenster ist weitaus größer als eine Stunde. Das ist für viele Mütter, die direkt nach der Geburt von ihrem Kind getrennt wurden und sich deshalb große Gewissensbisse machten und Angst hatten, etwas Wichtiges unwiederbringlich verloren zu haben, ein großer Trost.

 

Davon ganz unabhängig ist es trotzdem sicherlich förderlich, Mutter und Kind nach der Geburt nicht zu trennen. Michel Odent macht darauf aufmerksam, dass kriegerische Kulturen offenbar strenge Rituale entwickelt hatten, um Mutter und Kind nach der Geburt zu trennen. Das Liebesband zwischen Mutter und Kind wurde so früh wie möglich gestört und das Baby teils recht unsanft begrüßt. Bei den Spartanern (für die Krieg eine große Rolle spielte, und die gute Krieger ausbilden wollten) wurden männliche Säuglinge direkt nach der Geburt auf den Boden geworfen. Nur Säuglinge, die das überlebten, wurden als stark genug erachtet, um später gut im Krieg klarzukommen. Andere Kulturen dagegen, deren Überlebensstrategien nicht darauf abzielten, andere Völker oder auch die Natur zu „beherrschen“, griffen in die physiologischen Abläufe der Geburt so wenig ein wie möglich und ermöglichten der Mutter und dem Kind sich in Liebe kennenzulernen und zu binden. James W. Prescott, ehemals Direktor der Abteilung für Gesundheit und Entwicklung der amerikanischen Bundesgesundheitsbehörde, konnte in einer Studie nachweisen, dass eine Kultur umso friedlicher ist, desto mehr sie ihre Kinder liebt, ihnen viel Körperkontakt gewährt und die Sexualität nicht unterdrückt. 

 

In friedlichen Kulturen werden die kleinen Kinder am Körper getragen. Gesellschaften, die ihren Kindern diesen Kontakt verweigern, sind aggressiver und es gibt dort mehr Gewalt und eine größere Zahl von psychischen Erkrankungen. 

 

Aus der Ethnologie wissen wir, dass der Mensch ein Tragling ist. Das bedeutet, dass Körperkontakt eine notwendige Voraussetzung für die menschliche Spezies ist, um gesund (körperlich und psychisch) zu überleben und um später selbst Liebe geben zu können. Wenn das Kind weint, hat jede Mutter instinktiv das Bedürfnis, ihr Kind aufzunehmen und es an sich zu drücken, es zu streicheln. Das Weinen eines Kindes ist als Notsignal zu verstehen – und es wird auch so verstanden. Babys haben eine angeborene Erwartungshaltung, dass auf ihre Notsituation eingegangen wird. Die Bezugsperson – also meist die Mutter – ist Zuflucht in jedweder Bedrängnis. So entsteht das viel zitierte Urvertrauen, nämlich durch das innere Wissen: Wenn es mir schlecht geht, ist meine Mutter (mein Vater) für mich da. Ein Baby kann nicht fühlen, dass die Mutter gleich zurückkehrt, wenn sie es verlässt. Es weiß nur eins: Die Welt ist plötzlich falsch geworden, es fühlt sich unwohl, es beginnt vielleicht zu weinen. Wenn auf das Weinen keine Reaktion folgt, kann sich das Baby sehr bedroht fühlen bis hin zur Todesangst; darauf weist der Psychotherapeut Franz Renggli hin. Wird das frühe Sicherheitsbedürfnis nicht befriedigt, mangelt es dem Erwachsenen später im Leben oft an Vertrauen, an Selbst(wert)gefühl, an Spontaneität und Würde. Das heißt es wird ihm schwer fallen, sich vertrauensvoll auf eine Beziehung einzulassen und sein Herz zu öffnen. Unsicher gebundene Kinder haben ständig Angst, die Mutter zu verlieren. Sie bleiben an ihrer Mutter kleben, und können sich nur schwer ablösen. Der Bindungsforscher Karl Heinz Brisch hat festgestellt, dass gut gebundene Kleinkinder unruhig werden, wenn die Mutter den Raum verlässt; unsicher gebundene hingegen lässt das äußerlich ‚kalt’. Wenn die Mütter sicher gebundener Kinder wieder in den Raum kommen, werden sie von ihren Kindern mit Freude begrüßt, bei den unsicher gebundenen ist auch dann kaum eine Reaktion zu beobachten.

 

Grundsätzlich gilt: Eine gute Entbindung begünstigt eine gesunde Bindung. Eine sichere Bindung erleichtert eine gute Ent-Bindung später im Kindesalter, denn erst, wenn das Bedürfnis nach Nähe und Liebe gesättigt ist, kann das Kind losziehen, um seine Umwelt zu erkunden. „Je mehr an Körperkontakt das Kind erhält, desto weniger wird es später fordern, denn eine geglückte Loslösung setzt immer voraus, dass die Bindung befriedigend war. Der Mangel an Befriedigung ist es, der später zum konfliktträchtigen Sich-nicht-lösen-Können führt“, meint Sonja Stacherl. Wenn einem Baby am Lebensanfang genügend Nähe und Liebe gegeben wird, gehört das zu den besten Investitionen für die Zukunft, die man einem Kind mit auf den Weg geben kann. Deshalb kann man ein Baby im ersten Jahr überhaupt nicht verwöhnen. Im Gegenteil, je weniger man auf die Bedürfnisse des Babys eingeht, desto fordernder und quengeliger wird es werden. Aber auch dem späteren ungesunden Verwöhnen kann dies Tür und Tor öffnen, denn aus schlechtem Gewissen, dem Kind nicht gegeben zu haben, was es wirklich gebraucht hätte, versucht man später dann diesen Mangel durch materielle Zuwendungen wie Spielzeug und anderes wieder auszugleichen.

 

Ein Kind lernt im Laufe seiner Entwicklung, sich über die Bindung an seine  Mutter und seinen Vater selbst wahrzunehmen. Mutter und Baby treten in eine sehr enge Spiegelung ein.  Eine gut gebundene Mutter richtet sich an den Kommunikationsangeboten ihres Kindes aus.  Mutter und Kind spielen mit Blicken und Gesten ein fein abgestimmtes Ping-Pong-Spiel.  Das ist eine Kommunikation der Liebe.  Hier wird der Grundstein für weitere Spiegelungssituationen - auch und gerade in Liebesangelegenheiten! - gelegt.  Ohne eine Bindung an eine Bezugsperson kann die seelische Entwicklung eines Kindes verkümmern, sie bleibt stehen und wird sich nicht positiv entfalten können. Spätere Liebesbeziehungen werden stets auch mit davon geprägt sein, wie die erste Liebesbeziehung im Leben des Kindes – und das ist die Beziehung zur Mutter – verlaufen ist. Wie lebensnotwendig  Bindung ist, zeigt sich daran, dass Babys, die in Säuglingsheimen aufwachsen, sterben können, auch wenn sie physisch ausreichend mit Nahrung und Bekleidung versorgt werden. Eine sichere emotionale Bindung ist also existenziell, nicht nur im seelischen, sondern im ganzheitlichen Sinne.  Bei einer sicheren Bindungserfahrung entsteht  von selbst  das Interesse am anderen.   Auf die Frage „Wohin gehöre ich “ entsteht ein Grundgefühl von Geborgenheit und Verwurzelung als innere Basis. Innere Sicherheit  wird dann eine selbstverständliche Lebensbegleitung. 

 

Wie erleben wir als Erwachsene die Welt?  Wie viel ungestillte Sehnsucht  und Angst haben wir und wie viel Selbstvertrauen und Sicherheit? Wie lassen wir uns lieben und wie können wir (uns) selbst lieben? Wie gehen wir mit Konflikten um, wie mit Stress und Aggression? Haben wir einen Wunsch nach Verantwortung und Weiterbewegung und können wir ihn in die Tat umsetzen? Alle diese Fragen können in Zusammenhang stehen mit unseren allerersten Bindungserfahrungen  und dem daraus folgenden Kontinuum im weiteren Leben, darauf macht Bettina Alberti aufmerksam.  Schwangere Frauen und junge Mütter brauchen jede nur denkbare Unterstützung; sie brauchen es, von ihrem Umfeld getragen zu werden. Sie brauchen die Möglichkeit, das sich entfaltende weibliche Prinzip von Wachstum, von Zeit und Rhythmus haben, von Sein-Dürfen, von emotionaler Wärme,  Liebe, Geborgenheit und Sicherheit auch leben zu können. 

 

Unserer westlichen Gesellschaft ist dieses weibliche Prinzip - und als einen Bereich davon das mütterliche Prinzip - zum Teil abhanden gekommen.  Individualismus, Leistungsdenken, Profitorientierung, Konkurrenzdruck, Statussucht und soziale Beliebigkeit werden allzu stark propagiert, meint Alberti. Auch hier brauchen wir eine Wende, eine Wende im Bewusstsein, um den schon bestehenden und den auf uns zukommenden Aufgaben  gerecht zu werden.  Die Anfänge liegen sicherlich im Umgang mit unseren Kindern.

 

Wenn wir uns vor Augen führen, welche bindungsfeindlichen Erziehungsmaßnahmen im Dritten Reich propagiert wurden, dann kann einem ganz angst und bange werden.  Kinder wurden nach Plan gestillt, nach Plan gewickelt und das Ganze sollte zügig und ohne Gefühlsduselei vonstatten gehen.  Übermäßiges Schmusen mit dem Kind wurde nicht nur als unnötig, sondern sogar als schädlich angesehen. Die Soziologin Sigrid Chamberlain hat über die Säulingspflege in der NS-Zeit geforscht und beschreibt den Umgang direkt nach der Geburt wie folgt: „Das gesunde Neugeborene wurde, sobald es abgenabelt ist, in ein Tuch gehüllt, zur Seite gelegt und später, nachdem die Mutter versorgt ist, gebadet und angezogen.  Danach sollte es möglichst in einem Raum für sich allein sein und nach 24 Stunden der Mutter zum ersten Mal zum Stillen gereicht werden.“  Aus dieser Zeit stammen auch die Empfehlungen ein schreiendes Baby schreien zu lassen, weil man es sonst verwöhnt und sich einen kleinen Tyrannen heranzieht.  Wieviel Elend dies über Mütter und ihre Kinder gebracht hat, kann man sich vorstellen.  Mütter wurden von Experten aufgefordert, ihre Gefühle für das Baby hintanzustellen.  Es ist für sensible Mütter ein Alptraum, die Hilfeschreie ihres Kindes zu ignorieren, und doch haben sie es getan, weil sie glaubten, ihm damit Gutes zu tun. Chamberlain macht darauf aufmerksam, dass viele Menschen, die jetzt in den entscheidenden Positionen in allen Bereichen unserer Gesellschaft sind, geschädigt wurden durch eine nationalsozialistische Säuglingspflege und Sozialisation. „Da wurde etwas zerstört – und zwar so früh, dass der Einzelne daran keine Erinnerung mehr hat.  Es handelt sich hier allem Anschein nach um eine Vergangenheit, die zu sehr schmerzt, um sie bewusst wahrnehmen zu können, deren Zurkenntnisnahme häufig abgewehrt wird.“  Aber das Tragische ist, dass diese Art des Umgangs mit Babys nicht mit dem Ende des Krieges endete, sondern dass sich diese Dogmen recht erfolgreich in den Köpfen festgesetzt hatten, zumal Fachkräfte, die in der NS-Zeit diesen Umgang mit den Babys lehrten (Hebammen, Säuglingsschwestern, Gynäkologen, Kinderärzte), auch noch danach in Amt und Würde blieben, weil Säuglingspflege als unpolitisch galt.  Wir dürfen davon ausgehen, dass die Folgen dieser Behandlung bis heute nachwirken, wenn nicht bewusst in den Köpfen, dann sicherlich in den Zellen und Körpern.  Diese Bürde – verbunden mit den Kriegserfahrungen – aufzuarbeiten ist eine wichtige und notwendige Aufgabe.  

 

Gefühle wie Geborgenheit und Sicherheit sind elementar für ein gesundes Gedeihen.  Kinder, die sicher und geborgen im Tragetuch am Körper der Mutter oder des Vaters die Welt beobachten können, sind offen für Neues.  Sie können ihre Neugier ohne Angst vor Verlassenheit ausleben.  Und wenn es ihnen zu viel wird, können derart gut geschützte Babys einfach die Augen schließen und sich in Sicherheit in den Schlaf fallen lassen.  Dort können sie die Eindrücke in aller Ruhe verarbeiten, immer gekoppelt mit dem Bewusstsein, durch die körperliche Nähe mit Vater oder Mutter sicher zu sein.  

 

Der Volksmund hat zahlreiche Sprüche, die die Bedeutung der Haut für uns Menschen gut beschreiben:  "Das geht mir unter die Haut“, heißt so viel wie: Das berührt mich nicht nur äußerlich, sondern trifft mich tief im Innern. Wer sich „in seiner Haut nicht mehr wohlfühlt“, dem geht es tatsächlich schlecht. Die Haut ist die Grenze zwischen Innen und Außen.  Mit der Haut fühlen wir Berührung. Sie leitet äußere Sinnesempfindungen an das Gehirn weiter. Die Haut – unser größtes Sinnesorgan - ist eng mit dem Nervensystem und den übrigen Sinnesorganen verknüpft, denn sie alle entwickeln sich aus dem Ektoderm, dem äußeren Keimblatt.  Die Haut schützt uns vor Umwelteinflüssen (Temperatur, Sonne, Feuchtigkeit, Schadstoffe, Bakterien), sie ist aber gleichzeitig ein Kontaktmedium.  Säuglinge brauchen zum guten Gedeihen einen direkten, behütenden Körperkontakt zur Mutter, am besten nackt.  Auch später im Leben ist der direkte Körperkontakt von Haut zu Haut aus keiner Liebesbeziehung wegzudenken.  Die Haut transportiert unsere Gefühle von außen nach innen und von innen nach außen.  Unser Wohlbefinden kann durch einen zärtlichen Körperkontakt in Sekundenschnelle steigen. Die Haut ist „ehrlich“, sie zeigt unseren inneren Zustand nach außen.  Wir erröten, erbleichen, schwitzen oder es fröstelt uns so stark, dass sich die Gänsehaut zeigt.  Haut und Emotionen sind eng verknüpft, so eng wie Psyche und Körper.  

 

Wenn die Lebensenergie ungehindert durch den Körper fließt, ist Wohlbefinden das Resultat.  Ein Kind nach der Geburt von der Mutter zu trennen, hat den entgegengesetzten Effekt.  Der Lebensfluss wird unterbrochen, der emotionale Körper – der bis dato so eng mit der Mutter verbunden war – droht zu zerreißen.  Stresshormone werden ausgeschieden und verhindern das gesunde Wachstum.  Das Erleben der Berührung ist für Wachstum und Entwicklung aller Säugetiere sehr wesentlich.  Werden Katzenmütter davon abgehalten, ihre Jungen zu lecken, dann sterben diese.  Die Energieströme im Körper können durch heftige Schocks (die Geburt ist ein solcher) oder durch langanhaltende Störungen blockiert werden. Wenn diese Blockaden nicht aufgelöst werden, kommt es auf Dauer zur Störung des psychischen und körperlichen Wohlbefindens.  Ein Mensch, der bei der Geburt nicht liebevoll empfangen wird, psychisch und körperlich, wird – wenn dieses Erlebnis nicht durch viel Liebe wieder gut gemacht wird - ein Leben lang nach dieser Erfahrung hungern und suchen.  Im Prinzip könnte man sagen:  Dieser Mensch ist nicht wirklich in dieser Welt angekommen.  Er befindet sich noch immer in einem Schwebezustand.  Wenn wir bedenken, dass in den sechziger und siebziger Jahren die Trennung von Baby und Mutter absolut zum Standard in der Geburtshilfe gehörte, darf uns das heutige Ausmaß der psychischen Störungen nicht wirklich verwundern.  Hinzu kommt, dass Geburten damals häufig eingeleitet wurden (damit sie besser in den Klinikablauf passten), dass Frauen kurz vor dem Durchtritt des Köpfchens narkotisiert wurden (für das Kind ist das so, als sei die Mutter auf einmal tot), und die Dammschnittrate lag bei rund 90 Prozent.  Der obligatorische Klaps auf den Po zur Begrüßung soll in diesem Zusammenhang nur noch als i-Tüpfelchen erwähnt werden, obwohl gerade dies tatsächlich symptomatisch ist.  Die erste Berührung in der Welt außerhalb des geschützten Rahmens der Mutter war ein Schlag. Diese brutale Behandlung haben unsere Körper und Seelen nicht vergessen.  Traumen werden bei Wiederholungen aktiviert.  Um sich zu schützen, spaltet der Mensch traumatische Erlebnisse ab.  Nichts soll ihn mehr daran erinnern.  Situationen, in denen es wieder hochkommen kann, werden vermieden.  Dies sind keine bewussten Entscheidungen, es sind innerliche Programme, die sich verselbstständigt haben.  Während einer Schwangerschaft können diese alten Wunden wieder aufbrechen oder sogar ganz akut während der Geburt.  Zunehmende geburtshilfliche Komplikationen sollten auch unter diesem Blickwinkel betrachtet werden, auch der Wunschkaiserschnitt. Es hat sich auch gezeigt, dass Frauen mit traumatischen Geburten besonders nach Kaiserschnitt kein zweites Kind bekommen (möchten). Aber auch dies: Die erste Geburt eines Kindes verläuft oft sehr ähnlich wie die eigene Geburt der Mutter. Hier gibt es Zusammenhänge, die noch nicht so bekannt sind, für die sich auch die Mehrzahl der Mediziner nicht sonderlich interessiert, die aber in Zukunft mehr beachtet werden sollten.   

 

Frühe Traumen sind besonders hartnäckig und besonders schwer therapierbar.  Die Erfahrungen liegen in vorsprachlicher Zeit, das Gehirn hat sie an einen „sicheren“ zugangsgeschützen Bereich verfrachtet, Zutritt verboten.  Kinder mit frühen Traumen fallen durch dissoziales Verhalten auf: Sie ziehen sich in sich selbst zurück, sind kontaktgestört – vielleicht aber auch grenzenlos – vielleicht hyperaktiv, aggressiv und bindungsschwach, aber auch missbrauchsgefährdet.  Erwachsene mit frühen Traumata sind häufiger beziehungsunfähig, gewaltbereit, suizidgefährdet, depressiv, fühlen sich sinnentleert und unglücklich, sind suchtgefährdet, so das Ergebnis zahlreicher Studien.

 

Je früher therapeutisch eingegriffen wird, desto besser und leichter sind diese Folgen aufzulösen.  Natürlich wäre Prävention das allerbeste, aber um überhaupt wirklich effektiv präventiv tätig werden zu können, müssten alte, bestehende Traumen bei zukünftigen Eltern aufgearbeitet werden.  Oft ist es so, dass Eltern mit ihren untröstlich weinenden Babys Schreiambulanzen aufsuchen.  Zum Glück gibt es diese inzwischen!  Dort werden nicht nur die Babys, sondern vorrangig erst einmal die Eltern wieder stabilisiert.  Häufig können dann auch die Eltern – über den Umweg der Therapie für ihre Babys - sehr viel lernen und persönlich reifer werden.

 

In der ersten Zeit mit einem Säugling sollte die Mutter die Möglichkeit haben, sich ganz und gar auf ihr Baby einzulassen.  Im Wochenbett kann dies geschehen.  Mutter und Kind in einem Bett – behütet und gut versorgt, füreinander da.  Der Körper der Mutter spendet Nahrung für Körper und Seele.  Urvertrauen wird hier verankert.  Wunden können heilen, direkt und auf natürliche Weise.  Damit dies möglich ist, brauchen Mütter den Rücken frei und eine Gesellschaft, die dieser Zeit des Anfangs viel Wert beimisst und die dafür nötige Betreuung von Mutter und Kind bereithält und als selbstverständlich betrachtet.  Die Realität sieht anders aus:  Das Wochenbett wird nicht mehr in seiner Wichtigkeit anerkannt.  Mütter sollen möglichst schnell wieder funktionieren, um in drei Monaten – spätestens einem Jahr – in den zu Beruf zurück gehen.  Damit das klappt, müssen auch Babys schon funktionieren. 

 

Das Familienbett war über Jahrtausende die Norm.  Getrennte Betten von Eltern und Kindern sind – wenn wir es mal stammesgeschichtlich betrachten - eine recht neue Erfindung der Menschheit.  Eine Erfindung, die bei den Babys offenbar noch nicht wirklich angekommen ist.  Babys sind noch darauf geeicht, dass sie Körperkontakt für natürlich und normal halten.  Selbst zur Mitte des 20. Jahrhunderts war es immerhin üblich, dass Babybettchen im Elternschlafzimmer standen.  Das geschah meist aus Platzmangel, aber vielleicht gab es auch noch das Empfinden, dass ein so kleines Wesen nachts nicht allein gelassen werden sollte.  Und so konnten die Babys wenigstens noch den Atem und die Bewegungen der Eltern hören, wenn sie sie auch schon nicht mehr spüren konnten.  Heute werden die Babys in ihr eigenes Zimmer gestellt.  Das ist meist mit einer lieblichen Babytapete ausgestattet, die Matratze erfüllt sämtliche Kriterien der Orthopäden, und an Spieluhren, Teddys und anderen Ersatzobjekten fehlt es auch nicht. „Man könnte vermuten, dass das schlechte Gewissen der Erwachsenen, die dem Kind den ‚natürlichen Aufenthalt’ an ihren Körpern nicht mehr gönnen, sich durch die übertriebene Ausstattung der Liegestatt beruhigen wollte“, schreibt Barbara Sichtermann.   Trotzdem muss sich das Baby, das da so gänzlich allein und verlassen in seinem Bettchen liegt, vorkommen wie in Isolationshaft.  Weinende Babys beruhigen sich sofort, wenn sie gemeinsam mit der Mutter im Bett liegen.  Eine Mutter spürt instinktiv – sogar im Schlaf! – wenn mit ihrem Kind irgendetwas nicht stimmt.  Das gemeinsame Schlafen mit einer vertrauten Person erleichtert den Übergang von einer Schlafphase in die nächste – was Babys noch lernen müssen.  Es mindert gleichzeitig die Angst vor dem Verlassenwerden.  Wenn ein Baby während des Übergangs in eine andere Schlafphase im Begriff ist aufzuwachen, hilft ihm die Nähe zur Bezugsperson, sich wieder zu beruhigen, ohne vollständig aufzuwachen.  Der Schlaf der Familie wird auf diese Weise also ganz natürlich geschützt.  

 

Stillen bedeutet eine der tiefsten Liebesbeziehungen, die überhaupt möglich ist.  Genau das brauchen Kind und Mutter.  Sie verschmelzen miteinander, sind in einem Liebesfeld – körperlich und seelisch.  Muttermilch ist Seelennahrung, abgesehen davon, dass ihre Zusammensetzung genau den kindlichen Bedürfnissen angepasst ist.  Stillen ist körperliche Nähe in Vollendung. Beim Stillen – genau wie unter einer natürlichen Geburt ohne künstliche Eingriffe von außen – wird in hohem Maße das Hormon Oxytocin ausgeschüttet. Während der Geburt begleitet von noch anderen Hormonen wie z. B. Endorphinen.  Schmerzzustände können so besser ausgehalten werden, und sie setzen sich nicht dauerhaft als Erinnerung im Gehirn fest.  Babys, deren Mütter eine Periduralanästhesie bekommen, sind besonders arm dran.  Der mütterliche Körper produziert dann nämlich diese förderlichen Geburtshormone nur reduziert und so ist das Kind den Schmerzen mit verminderter natürlicher Schmerzlinderung ausgesetzt.  Oxytocin hat Antistress-Effekte wie Senkung des Blutdrucks, Drosselung des Stresshormons Cortisol.  Es lässt die Schmerzwahrnehmungsschwelle steigen (das heißt, auch schmerzhafte Situationen werden als nicht so schmerzhaft empfunden) und es fördert freundschaftliche, soziale Interaktion.  

 

Ein Baby, das gestillt wird, bekommt eine ganz rosige Haut, es entspannt sich, es sucht den Blickkontakt mit der Mutter, seine Händchen berühren die Mutter. Oxytocin stimuliert mütterliches und soziales Verhalten – aber auch die Bindung zwischen Elternteil und Kind sowie die Paarbindung zwischen monogamen Säugetieren.  Bei Tierversuchen wurde gezeigt, dass hohe Oxytocin-Werte mit verbesserter Lernfähigkeit und antidepressiver Wirkung Hand in Hand gehen.  Das wirklich Erstaunliche an dieser Studie der schwedischen Wissenschaftlerin Kerstin Uvnäs-Moberg ist aber, dass diese günstigen Wirkungen des Oxytocins - wenn es während der Neugeborenenphase in genügendem Maße vorhanden ist – lebenslang anhält, und zwar in besonderem Maße, wenn es gleichzeitig pränatale Stresssituationen gab.  Das heißt:  Wenn genügend Oxytocin im Körper zirkuliert, sind Stresssituationen besser zu verarbeiten und müssen nicht die gefürchteten Folgen haben.  Das ist echte Prävention!  Nochmals: Oxytocin wird ausgeschüttet bei Berührung, beim Stillen und bei der Wehentätigkeit (deshalb ist auch ein Kaiserschnitt ohne Wehen besonders schädlich).  Auch andere sensorische Stimulationen wie Saugen, Nahrungsaufnahme, Wärme, Licht, massageähnliches Streicheln und sexuelle Stimulation führen zur erhöhten Konzentration von Oxytocin im Blut.  

 

Eine gestörte Mutter-Kind-Dyade braucht so früh wie möglich „emotionelle erste Hilfe“.  Der Diplom Psychologe und Körperpsychotherapeut Thomas Harms  hat für die Krisenarbeit mit Eltern und Babys genau dies entwickelt.  In seiner Praxis in Bremen wendet er die Bindungstherapie zwischen Eltern und Kind durch Berührung sehr erfolgreich an.  Er sagt: „Ein geburtstraumatisierter Säugling zeigt ein erhöhtes Maß an motorischer Unruhe, Quengeln und Blickkontakt-Vermeidung.  Es ist beeindruckend zu beobachten, wie dieses Baby innerhalb weniger Minuten sein gesamtes Erscheinungsbild verändern kann, wenn der Energiefluss zum Beispiel durch eine liebevolle und berührende Babymassage wieder angeregt wird.  Die Öffnung der Blockade macht das Symptom überflüssig.“  Ungelöste Geburtstraumata oder Narkoseeffekte können die Beziehung zwischen Mutter und Kind stören.  Wenn wir uns allerdings dem Baby in Liebe zuwenden, kann es uns zeigen, was ihm fehlt und was es erlebt hat.  Babys, die sich geborgen und aufgehoben fühlen, „spielen“ ihren Geburtsprozess nochmals durch und können, wenn sie dabei liebevoll begleitet werden, das Trauma lösen.  Das funktioniert auch noch bei älteren Kindern und auch bei Erwachsenen.  Dabei ist allerdings eine (körper-)therapeutische Begleitung sinnvoll.  Babys und Kinder zeigen durch ihre Körpersprache ihre Geschichte.  Aufgabe des (Baby-)Therapeuten ist es, zu unterstützen und vielleicht leichte Impulse zu setzen. Wie Berührung empfunden wird – als angenehm oder als invasiv – reflektiert unsere frühesten Erfahrungen, je nachdem wie das Gehirn  durch die Erfahrungen programmiert wurde.

 

Auch wenn ein ungünstiger Anfang lebenslange schädliche Folgen haben kann, muss das nicht so eintreten.  Mit Liebe,  Berührung (das ist die körperliche Ausdrucksform von Liebe, wenn sie in diesem Sinne ausgeführt wird) und nochmals Liebe sind alle Wunden zu heilen. Allein durch die körperliche Nähe und das Stillen sind die meisten kleineren Traumen in früher Zeit ganz natürlich und recht einfach zu beheben. Eine Mutter, die es sich erlaubt, sich gänzlich auf ihr Kind einzustellen, und in einem Liebesfeld mit ihm verschmilzt, legt damit den Grundstein für eine wunderbare Entwicklung.  Sie muss allerdings in der Lage sein, diese Nähe auch zu ertragen.  Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Nähe zu einem Baby eigene Frühtraumatisierungen wieder wecken kann.  Dann wird die Nähe zum Baby unerträglich, und daraus folgt die Flucht vor dieser elementaren Liebesbeziehung. Das ist ein Unglück, nicht nur für das Baby, das dadurch wiederum eine frühe Traumatisierung erfährt, die dann an eine weitere Generation weitergegeben wird, sondern auch für die Mutter.  Denn gerade in der ersten Zeit mit einem Baby - ja im Prinzip bereits in der Schwangerschaft – besteht die Möglichkeit, diese alten Wunden zu heilen, sich der Nähe zu öffnen, Panzer schmelzen zu lassen und eine neue Form der Bindung wieder zuzulassen. Eine solche Liebesbeziehung zwischen Mutter und Kind heilt auch die Wunden in dieser Welt ein wenig.