Der Glaube - ein Medikament?

Die große Rolle, die Gesundheit für den modernen Menschen spielt, hat sicherlich auch damit zu tun, dass metaphysische und spirituelle Dimensionen in den offiziellen modernen, aufgeklärten Weltbildern weitgehend abhanden gekommen sind. Insofern hat der Mensch keine andere Sicherheit mehr für seine Existenz als einen gesunden Körper und eine stabile Psyche. „Gesundheit, vor allem der Versuch, diese zu ‚erlangen‘ und ‚aufrechtzuerhalten‘ ist zur postmodernen Ersatzreligion geworden, und es ist ein Kampf gegen die Uhr des Lebens, der nicht zu gewinnen ist“, analysiert der Psychologe Nikola Kohls. Ein Zusammenrücken von körperlich orientierter Medizin und metaphysischer Ausrichtung könnte also beiden Seiten zu neuen Erkenntnissen verhelfen. 

 

Dass sich Menschen mit ihrer Hinwendung zu spirituellen oder religiösen Inhalten eine gesundheitsfördernde Ressource erschließen, zeigt eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien. Über 1200 unabhängige Untersuchungen kommen zu beeindruckenden Ergebnissen: Religiöse Menschen sind weniger oft im Krankenhaus, haben einen niedrigeren Blutdruck und scheinen besser gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschützt zu sein. Sie reagieren auf belastende Lebensereignisse und Krankenhausaufenthalte weniger häufig mit Depressionen. Wenn sie dennoch einmal depressiv werden, erholen sie sich meist in kürzester Zeit. Patienten, die glauben und beten, waren nach Operationen schneller wieder auf den Beinen und benötigten weniger Schmerzmittel. Menschen, die regelmäßig einer spirituellen Praxis nachgehen, verfügen über ein stärkeres Immunsystem. Sie haben deutlich niedrigere Blutwerte von Interleukin-6, das bei chronischem Stress erhöht ist und als Zeichen eines geschwächten Immunsystems gilt. Ein geschwächtes Immunsystem wiederum ist bekanntlich ein wichtiger Faktor bei zahlreichen Erkrankungen, angefangen bei einfachen (immer wiederkehrenden) Infekten bis hin zu schwerwiegenden Krankheitsbildern. Der Unterschied im Gesundheitszustand von Gläubigen und Ungläubigen ist ähnlich wie der zwischen Nichtrauchern und Rauchern. 

 

„Wenn Spiritualität ein Medikament wäre, wäre es längst zugelassen, denn sie wirkt“, meint Ellis Huber, von 1987 bis 1999 Präsident der Berliner Ärztekammer. Auch Kohls kommt in seiner Doktorarbeit über die Wirkung von Spiritualität auf die Gesundheit zu dem eindeutigen Schluss: Wer Religion und Spiritualität gegenüber abgeneigt ist, hat ein gesundheitlich höheres Risiko als ein gläubiger Mensch. Denn der Nichtgläubige verfügt über weniger Möglichkeiten, mit schwierigen Erfahrungen und Schicksalsschlägen umzugehen. 

 

Soll also Spiritualität in Zukunft ärztlich verordnet werden? Das hätte wohl wenig Aussicht auf Erfolg, denn Heilung lässt sich auf spirituellem Weg nicht herbeizwingen. Möglicherweise liegt gerade in der Absichtslosigkeit einer spirituellen Übung der Schlüssel zum Erfolg. Der Psychologe Michael Utsch gibt zu bedenken, dass Meditationsforscher – sowohl christlicher als auch buddhistischer Tradition – übereinstimmend zu dem paradoxen Befund gekommen sind, dass die Heilwirkung der Meditation gerade dann besonders groß ist, wenn sie weder zielgerichtet noch funktional eingesetzt wird: „Gesundheit und Entspannung treten demnach nur als indirekte Nebeneffekte ein.“ Eine Einschätzung, die auch vom amerikanischen Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn seit Jahren vertreten wird: „Wir meditieren nicht, um Schmerzen, Krankheit oder Probleme zu beseitigen. Der beste Weg, in der Meditation Ziele zu erreichen, ist, diese loszulassen. Es geht nicht darum, irgendetwas zu erreichen. Die Entspannung entsteht als Nebenprodukt regelmäßiger Übung, sie ist nicht das Ziel.“ Utsch verweist darauf, dass dieser Ansatz vergleichbar sei mit dem christlichen Bekenntnis: Dein Wille geschehe. „Nur wer loslassen und sein Schicksal vertrauensvoll in die Hand Gottes oder einer anderen höheren Macht legen kann, profitiert von der gesundheitsförderlichen Kraft des Glaubens.“ 

 

Andererseits gibt es in den USA ermutigende Ansätze, die zeigen, dass sich spirituelle Konzepte mit der Schulmedizin durchaus verknüpfen lassen. Immer mehr Universitätskliniken eröffnen so genannte mind/body-Abteilungen – allen voran die renommierte Harvard Universität –, wo spirituelle Praxis mit medizinischer Therapie Hand in Hand geht. Am Columbia Presbyterian Hospital in New York – einem führenden Zentrum in der Herzchirurgie – werden die Patienten vor und nach einer Operation mit Meditation, Musiktherapie, Yoga und Tai-Chi begleitet: Drei Viertel der medizinischen Hochschulen in den Staaten bieten Kurse in Komplementärmedizin an; an den meisten Krankenpflegeschulen wird zum Beispiel Therapeutic Touch, eine systematische Form des geistigen Heilens gelehrt. In Deutschland gibt es zwar auch eine steigende Anzahl von Ärzten und besonders Krankenschwestern, die privat spirituelle (Heil)Ausbildungen absolvieren. Allerdings wenden sie dieses Wissen meist aus Angst vor Sanktionen der Klinikleitungen nicht offen an.

 

Ein solches Vorgehen ist in Deutschland jedoch noch eher die Ausnahme. Zwischen den naturwissenschaftlich ausgerichteten Wissenschaften, zu denen sich auch die Medizin zählt, und den ganzheitlich ausgerichteten Bemühungen, spirituelle Bereiche wieder zu etablieren, klafft ein Graben des gegenseitigen Misstrauens. Zu Unrecht, wie Harald Walach meint. Im Altertum, bei den Griechen, Ägyptern und fast allen anderen Hochkulturen, war die geistige Dimension stets ein wesentlicher Faktor bei der Heilung von Krankheiten. Als Scharlatane wurden damals die Heiler tituliert, die sich lediglich den körperlichen Beschwerden widmeten und zur geistigen Dimension keinen Zugang hatten. 

 

Im Verlauf der Aufklärung begann sich die Wissenschaft von der zur damaligen Zeit doktrinären kirchlichen Lehrmeinung zu lösen, die im geistigen Bereich eine Monopolstellung innehatte und diese auch mit allen Mitteln der Macht verteidigte. Es war in diesem Zusammenhang für die Freiheit der Forschung fast eine Notwendigkeit, spirituelle Gedanken außen vor zu lassen. Die Wissenschaft – und damit auch die Medizin – in ihrem Bestreben, die materielle Welt zu durchschauen und zu erklären, hat sich in der Folge völlig von geistigen Einflüssen entfernt. Diese galten als suspekt, unbeweisbar und daher unbrauchbar, die Welt zu erklären. Inzwischen kommt jedoch gerade die moderne Physik zu ähnlichen Erkenntnissen, wie sie in den meisten alten spirituellen Lehren anzutreffen sind.